Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Meines Bruders Georg Schreiben aus Lund vom 6. August 1802


»Manchmal, unter einer Eiche ins Grüne hingestreckt, überblicke ich die letztverflossenen dreizehn Jahre, und die Sonne muß so schön leuchten wie seit einigen Tagen und die Nacht durch den in Norden so belebten Schimmer der Gestirne beinahe zum hellen Tag werden, damit ein Rückblick auf die Vergangenheit die Seele nicht mit tötendem Gram fülle und der Gedanke an die Zukunft nicht jeden Trost raube. – Voriges Jahr, beinahe um die nämliche Stunde, warnte ich die Schweizer noch gegen neue Schmach und gegen neuen Jammer. (In einem gedruckten Aufsatze über die Einrichtung des Zentralwahlausschusses von August Wartenburg, Zürich 1801.) Damals erhielt jeder Blick auf die majestätischen Alpen meinen sinkenden Mut und meinen erschütterten Glauben an die Möglichkeit eines freien Volkes, jetzt suche ich Trost im Anschauen der wogenden See und Ruhe im Genuß der ländlichen Szenen auf schwedischem Boden, an den ich niemals dachte, wenn ich so manchmal bei mir selbst die Gegenden aufzählte, in die mich der Sturm des Schicksals einst noch verschlagen könnte! – – – – – – An den Ufern des Finnensees in den Waldgegenden Schwedens verweilte ich wieder einige Tage in stiller Einsamkeit, ganz den Betrachtungen hingegeben, wozu so viele neue Gegenstände Stoff und Gelegenheit herbeiführten. Hier sowie in andern abgelegenen Gegenden der Provinz fand ich Ursache, das Kunstgefühl und den natürlichen Geschmack zu bewundern, den der schwedische Handwerksmann, auch fern von den Städten, seinem gesunden Auge und seinem richtigen Verstande dankt. Wir waren kaum zu Malmö angelangt, als die schönen Herbsttage mich gleich wieder zu neuen Ausflügen verleiteten, wovon der erste nach Kullbergen war. Schon von Higganß aus sah ich diese Felsen im Schimmer der Abendsonne und nahm mir damals fest vor, Schonen nicht zu verlassen, ohne diese Stelle besucht zu haben. Ich reiste über Landskrona, dem am meisten befestigten Platz auf der Küste Schonens. Der Anblick des schwedischen Militärs gewährt daselbst um so größeres Vergnügen, da man hier jenen jovialen Zug, jene freiere Haltung wiederfindet, die den wahren Soldaten von der Maschine unterscheidet.

Bei einer Nation, die so häufige, so lange und so unglückliche Kriege geführt, mußte allerdings ein martialisches Aussehen gleichsam in die Volksphysiognomie sich einschmelzen; auch lebt in der Seele des schwedischen Mannes der Glaube, daß der Feind ihm notwendigerweise an Zahl überlegen sein, er aber denselben ebenso notwendigerweise überwinden müsse.

Die vielen vortrefflichen Unteroffiziere bei der schwedischen Armee, die Einrichtung der Nationaltruppen, die natürliche Offenheit und Empfänglichkeit des Schweden, sein leichtes Blut und sein leichterer Sinn, scheinen bei der Nation jenes Ehrgefühl zu erzeugen und zu unterhalten, wodurch Wunder der Tapferkeit und Hingebung zur alltäglichen Geschichte werden.

Die einzelnen Kriegstaten der Schweden während der letzten russischen Kriege verdienen eine xenophontische Feder und beweisen, daß diese Nation nur ihre inneren Kräfte zu Rat halten darf, um jeder Gefahr von außen trotzen zu können.

Die Menge von großen Seen, der Mangel schiffbarer Flüsse, die Ungleichheit des Terrains bilden in Schweden einen Grad von militärischer Befestigung, der beinahe anzudeuten scheint, die Natur selbst sei mit der Unabhängigkeit dieser Nation in einen ewigen Bund getreten.

Wenn auch der schwedische Soldat blindlings dem Rufe der Kriegstrompete folgt, so verleugnet er darum keineswegs seine wahre Gesinnung und Wünsche. Nach einem neuen königlichen Befehl zieht die schwedische Wachparade jetzt wieder morgens um 9 Uhr auf. Die bisherige Mittagsstunde ist nur für Sonn- und Festtage beibehalten. So war es zur Zeit Carl des XII., für den der gegenwärtige König (Gustavson) eine besondere Ehrfurcht äußert.

So gerecht auch die Klagen gegen jenen Monarchen (Carl den XII.) und über den Schaden sein mögen, den er seiner Nation zugefügt hat, so bleibt das Außerordentliche in dem Charakter und in den Schicksalen des sonderbaren Mannes nicht minder merkwürdig. Sein Andenken ist dem Volke keineswegs verhaßt, und vor wenigen Jahren lebten noch mehrere alte Leute in Schonen, die ihm auf seinen Kriegszügen gefolgt waren und nicht, ohne Tränen zu vergießen, seinen Namen nannten.

Er wurde im Augenblick eines kühnen Unternehmens ermordet, und zwar in einem Alter, wo er, nach früh erlebten Schicksalen, noch Kraft und Muße genug besaß, um große begangene Fehler wiedergutzumachen. An seiner Leiche würde die richtende Gerechtigkeit selbst ihr Urteil in einen Klageton verwandeln. Sein Nachfolger, Friedrich von Hessen, der sein Freund nicht war und mit der Aristokratie sich in die blutbefleckte Krone, wie in eine Beute, teilte, wurde noch auf seinem eigenen Sterbebette der Bewunderer Carls. Eben als er mit dem Tode und der letzte Funke von Bewußtsein mit der letzten Erinnerung der Vergangenheit rang, tönten furchtbar aus seiner röchelnden Brust die Worte: ›Carl! – Carl! – Du warst doch ein großer Mann!‹ – Die Umstehenden vernahmen es, ihre Zahl war gering.

In einer der Seitenstraßen des Marktplatzes von Landskrona lebt Lamberg, General des Geniewesens, in einer kleinen, bescheidenen Wohnung. An sie stößt ein Garten, den der brave Greis mit eigener Hand bebaut. Der Siebenjährige Krieg war seine Schule. Er lebte während desselben in dem österreichischen Lager. Seine Ansicht des letzten französischen Kriegs, sein Urteil über den Gang und die Resultate desselben zeugen von der Jugendkraft, die sein Verstand bei einem hohen Alter besitzt. Sein Blick dringt in die Gesetze der Natur ein. Sein Sinn und seine Sitten sind gleich spartanisch. Er ist der einzige Nichtadelige, welcher General ist; er hat Diplome mit Bescheidenheit abgelehnt. Sein Leben ist sein Adel.

Eine halbe Meile von Higganese liegen die sogenannten Kullen, die ein Vorgebirge der schonischen Küste ausmachen. Sie begrenzen eine weite Ebene, rings um sie ist Meer von der einen, plattes Land von der andern Seite. Je höher man hinaufsteigt, desto grauser wird das Chaos. Hier liegen ganze ungeheure Steinblöcke, die einst auf stolzer Höhe thronten; dort scheinen die furchtbaren Felsen sich einander selbst in ihrem Sturz zu tausend und tausend Scherben zermalmt zu haben; endlich legt auf der westlichen Spitze die Natur plötzlich wieder ein liebliches Gewand an und verkündet ihren Segen in der Höhe schreckbarer Trümmer.

Man gelangt unverhofft in ein kleines Gehölz von Linden, Buchen, Birken und Eichen, das einige Felder einschließt, auf denen Gerste, Roggen, Kartoffeln und Gartenfrüchte gepflanzt werden. Sie berühren einen weiten, ungleichen Wiesengrund, der zu den äußersten westlichen Hügeln oder vielmehr Felsen führt, von deren Gipfel herab die Zerstörung selbst in die Wogen des erzürnten Meeres sich zu stürzen scheint.

Wir kletterten die Felsenabhänge hinab und besichtigten einen Gang, der ehemals gegraben wurde, weil man sich Hoffnung machte, hier Silber zu finden.

Die Kullen sind an der Stelle, wo sie stehen, eine merkwürdige und frappante Erscheinung. Ringsumher plattes Land von neuerer Formation, teils Flözschichten, teils wohl auch aufgeschwemmtes Land, und aus ihm treten wie ein uraltes Denkmal die Granitfelsen, welche dieses Vorgebirge ausmachen, hervor. Die ganze Strecke, soweit wir Zeit hatten, sie zu untersuchen, besonders die äußersten, am meisten hervorspringenden Felsen, bestehen im ganzen aus einem und demselben Granit, der nur in Rücksicht auf Grobheit oder Feinheit des Kornes einige Verschiedenheiten zeigt. Für den Botaniker blühen auf den Kullen einige Pflanzen, die mir selten schienen, selbst einige Alpenpflanzen. Immer aber wird das Interesse überwiegend bleiben, wodurch die Kullenfelsen sich dem Sohne der Natur empfehlen.

Das ganze Felsenparadies gehört jetzt einem Quartiermeister von den eingeteilten Truppen, namens Briek, der es mit seiner Frau erheiratete. Man hat ihm 10 000 Riksdaler dafür geboten, allein er scheint keine große Lust zu haben, es für diesen Preis abzutreten. In der Tat könnten sich auch leicht Liebhaber finden, denen die doppelte Summe noch wohlfeil in Hinsicht der herrlichen Schöpfung scheinen möchte, die hier die Kunst hervorrufen wird, wenn dieser Erdpunkt einst in den Besitz eines Mannes von Vermögen und von Geschmack geraten sollte.

Im Verlauf des vorigen Sommers war der König hier mit der Königin; er hatte seine Hofküche aus Helsingborg mitgebracht und fuhr auf der Felsenhöhe mit seinem Hofstaate in der Kutsche. Es war bei schönem, hellem Wetter; wir trafen einen bessern, der ganzen Szene angemessenen Augenblick.

Regengüsse schienen mit einer Sündflut zu drohen, der Wirbelwind jagte die Wogen der See zu Staub auf, und schäumend stürzte das tobende Meer über die untersten Felsen hin. Schwarzes Gewölk verfinsterte den Himmel, am westlichen Horizont allein waren noch lichte Streifen. In sie trat die untergehende Sonne, deren letzte Strahlen das furchtbare Schauspiel herrlich beleuchteten und einen Regenbogen bildeten, dessen eine Säule auf dem Orisund ruhte und dessen andere aus der Nordsee emporstieg. Mitteninne lag die Kulla mit ihren romantischen Schönheiten. Von dem Feuerturme aus sahen wir diese majestätische Naturerscheinung. Immer wilder tobte der Sturm. Das hohe Gestirn verschwand, vollendet war die Nacht, und unsere Herzen durchbebte ein Gefühl – der Zukunft. Briefe und Zeitungen hatten sich in meiner Abwesenheit angehäuft, ich verschlang jene und quälte mich mit diesen, die noch immer voll von Begebenheiten und einzelnen Zügen sind, welche auf jene drohende Zukunft hindeuten, wo ein Machtspruch über alle walten und das gleiche Schicksal keinen Trost übriglassen wird, als etwa die für jede Memme erfreuliche Gemeinschaft der gleichen Schande. Oder darf man etwas Besseres zu einer Zeit erwarten, wo jeder Morgen einen neuen Gewaltstreich, jeder Abend einen neuen Meineid aufweist? – Man sollte beinahe aufhören, sich über die Gleichgültigkeit zu wundern, in die seit dem Frieden die vorher in wirkliche Wut ausartende Begierde nach Neuigkeit sich verwandelt hat. Freilich, nachdem man so lange dem wilden Chaos der Begebenheiten nachgerennt ist, sich an Bataillenstücken, von Meistern und Stümpern mit gleich blutigem Pinsel gemalt, zur Übersättigung ergötzt hat, ist es allerdings der gemächlichen Vernunft gemäß, daß man sich die Augen verbinde, um ein desto ungestörteres Pflanzenleben zu führen. – – – – So unvollkommen die äußere Physiognomie Schwedens ist, so unregelmäßig sie von den äußern Punkten aus erschien, auf denen ich verweilte, so bietet sie dennoch tausend einzelne Züge dar, die mit unwiderstehlicher Kraft an sich ziehen, Huldigung gebieten oder Zuneigung in die Seele zaubern. Wenn jemals die Unruhen Europas sich erneuern, wenn in einigen südlichen Ländern der neue Koloß zu lästig werden sollte für den Mann von unabhängigem Nationalsinn, so rate ich denen, die das Joch des Eroberers nicht tragen, Europa nicht verlassen und dennoch nicht auf selbstständigkeitslosem Boden leben wollen, des schwedischen Volks und des schwedischen Bodens sich zu erinnern. Mit einem mäßigen Vermögen, das sie retten können, werden sie, im Fall sie das Landleben nicht scheuen, zwar hier keine Goldgruben, allein die Möglichkeit eines angenehmen tätigen Daseins unter einem Himmelsstriche finden, der ungleich besser als sein Ruf ist, unter einem Volke, reich an Kraft, an physischen und moralischen Anlagen, und auf einem Boden, der frei von solchen ist, die ihr Vaterland in einem zerrissenen, kraftlosen Zustande erhalten, der aus den Gemütern entweder die Zufriedenheit bannt oder in ihnen den letzten Funken von Nationalgefühl zernichtet.

Ich wollte der Bekämpfung der geistigen Gebrechen der Menschheit mein Leben weihn, es gelang mir nicht. Nun kehre ich zur Bestimmung meiner Jugend zurück, zur Bekämpfung körperlicher Gebrechen der Menschen. Ich begebe mich nach Kopenhagen und weihe mich dort wieder dem Studium der Arzneikunde.«

So weit mein Bruder Georg in diesem Briefe. Man muß bedenken, daß dieses im Jahre 1802 geschrieben wurde, wo Bonaparte erst anfing, sich als solchen zu zeigen, für den ihn der Schreiber dieses Briefes schon in Italien erkannt hatte. Die Geschichte der nachfolgenden Jahre rechtfertigt diese Gefühle und Aussprüche ganz und gar.

Nachdem mein Bruder zu Kopenhagen nun über 1½ Jahr lang sich wieder mit vielem Eifer der praktischen Medizin, Wundarzneikunst und Geburtshülfe gewidmet hatte, begab er sich im August des Jahrs 1803 abermals nach Hamburg und ließ sich dort als praktischer Arzt nieder.

Seine Verheiratung mit einer Hamburgerin, Friedrike Dunker, die an Geist, Bildung und Liebenswürdigkeit unter die ausgezeichnetsten Frauen ihrer Zeit gehört, fiel in das Jahr 1804.